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Thomas Görden
SIE
"Es ist für dich", sagte meine Mutter und hielt mir den Hörer hin. Pit war am Apparat, mein bester Freund. Ich war damals zwölf Jahre alt. Ich weiß noch, daß meine Eltern und ich am Tag zuvor vom Urlaub an der Nordsee zurückgekehrt waren. "Du mußt heute nachmittag unbedingt mit mir in den Wald kommen. Ich muß dir was zeigen. Es ist was ganz Schlimmes passiert!" Pit klang sehr aufgeregt. Mit "dem" Wald meinten wir immer ein ganz bestimmtes Waldgebiet am Rand jener kleinen Stadt am Rhein, in der ich aufwuchs. Es lag oberhalb des Waldfriedhofs zwischen den Feldern von Gut Breitscheid und der Landstraße, die über die Dörfer ins Wiedtal führte. Dieser Wald war seit Jahren unser bevorzugter Abenteuerspielplatz. Nach dem Mittagessen holte ich Pit ab. Es war Anfang August, und wir lebten noch in der Freiheit der Sommerferien. Pits Familie wohnte in einem großen Mietshaus gegenüber der Schaumstofffabrik, deren giftige Schwaden Tag für Tag über die Stadt zogen und unsere Schleimhäute reizten. Zwischen Mietshaus und Fabrik rollte endlos der Verkehr aus dem Rheintal hinauf in den Westerwald zur Autobahn. Immer wenn unten ein schwerer Lastwagen vorbeirumpelte, erzitterte der Fußboden. Pit und ich liefen an der neuen Hauptschule vorbei, die geradezu bedrohlich über der Stadt aufragte. Mit ihrer klobigen Quader-Architektur erinnerte sie mich an eine Art von militärischem Hauptquartier. Dann mußten wir ein Neubaugebiet durchqueren, das zwischen Waldfriedhof und Schule den Hang emporwucherte und einen gefährlichen Straßenstumpf unserem Wald entgegenstreckte. Von hier lief ein schmaler Fußweg am neuen Zaun des Friedhofs entlang. Sie hatten dort die alten Obstbäume gefällt, um Platz für mehr Gräber zu schaffen. Der Weg führte durch ein dichtes Brombeergestrüpp, das eine natürliche Grenze bildete. Dahinter begann unser Reich der Abenteuer. Rechts vom Weg hatte die Erde ihre Haut zu drei steilen Falten gerunzelt, deren Rücken mit Buchen bewachsen waren, so daß man am Boden der engen Talfurchen knietief durch Buchenlaub watete. Auf diesen Erdfalten konnte man indianermäßig herumklettern. Es gab dort auch einen Dachsbau, doch von dem Dachs entdeckten wir nur Kot und Fußspuren. Ihn selbst bekamen wir nie zu Gesicht, obwohl wir uns einige Male auf die Lauer legten. Und in der Nähe des Dachsbaus hatten wir einen Ausguckposten eingerichtet, mit Blick auf die alte Kiesgrube. In der Grube stand unter einem Wellblechdach die Ruine eines Lastwagens. Der Windschutzscheibe fehlte das Glas, und im Führerhaus roch es nach Gummi und Öl. Manchmal klemmte Pit sich hinter das riesige Lenkrad, und wir machten dort unter dem Wellblechdach weite Reisen. Vermutlich war dieser vor sich hin rostende Kieslaster schuld daran, daß Pit später Fernfahrer wurde. Oberhalb der Kiesgrube reichte der Wald bis an die Landstraße heran. Hier befanden sich zwischen den Bäumen rechteckige, mit Laub gefüllte Löcher, von denen aus man die Straße beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Von unseren Eltern hatten wir erfahren, daß es sich dabei um Schützenstände handelte. Bei Kriegsende hatten die deutschen Soldaten sich hier letzte Rückzugsgefechte mit den vorrückenden Amerikanern geliefert. Auch wir verschanzten uns dort und hielten gespannt nach Panzern Ausschau, doch im allgemeinen kamen nur Mopeds, Autos und ab und zu ein Traktor vorbei. Wir stellten uns auch vor, in einem dieser Schützenlöcher eine Flak in Stellung zu bringen. Damit wollten wir auf die Düsenjäger feuern, die von der Eifel herüberkamen und bei ihren Übungsangriffen auf die Rheinhöhen über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Im Norden wurde unser Reich von einem Taleinschnitt begrenzt, hinter dem die Felder von Gut Breitscheid lagen. Zwischen dem Fußweg und diesem schmalen, mit Gestrüpp und umgestürzten Bäumen gefüllten Tal befand sich, was wir als das magische Herz unseres Reiches betrachteten. Riesige Buchen standen dort, deren mächtige, silbrig glänzende Stämme wir nicht mit den Armen umfassen konnten. Oft lehnten wir uns an ihre rauhe Haut und blickten hinauf zum Sonnenlicht, das durch das Blätterdach rieselte. Wo die Sonnenstrahlen über den Waldboden tanzten, konnte man braune Eidechsen umherhuschen sehen wie geheimnisvolle Miniaturdrachen. Diese uralten Bäume hatten für uns einen besonderen Zauber, den Erwachsene bestimmt nicht verstehen konnten - vielleicht konnten wir dort Kobolde sehen, oder selbst zu Kobolden werden, wenigstens am Nachmittag, für zwei, drei Stunden. Bis zu jenem Tag in den Sommerferien, als ich mit Pit den Weg vom Friedhof hochkam. Als wir das Brombeergestrüpp passiert hatten, faßte er mich am Arm. "Paß auf", sagte er mit seiner hohen, immer etwas aufgeregten Stimme, "gleich ..." Ein paar Schritte noch, dann blieb ich stocksteif stehen. "Scheiße", rief ich. "Diese Schweine!" Sie hatten alle alten Buchen links vom Weg gefällt. Dort, wo das magische Herz unseres Kobold-Königreiches gewesen war, klaffte eine riesige Wunde, ein grausiger blinder Fleck. Schon seit einiger Zeit hatte eine dumpfe Drohung über unserem Reich gelegen, ein Gerücht, daß durch das Tal hinter dem Friedhof eine Umgehungsstraße gebaut werden sollte und man sich wegen der Trassenführung Gedanken machte. Heute sind das für mich vertraute Begriffe, Instrumente, mit denen ich zu hantieren gelernt habe. Damals, als wir Kinder waren, existierten sie irgendwo weit weg am Rande unseres Erlebens. Wir wußten nur, daß in den Köpfen der Erwachsenen merkwürdige Dinge vorgingen, und daß diese Dinge für alte Buchen, für Dachse und verrostete Kieslaster im allgemeinen nichts Gutes bedeuteten. Jetzt hatte uns die Erwachsenenwelt eingeholt. "Mein Vater hat gesagt, es ist wegen der Straße." Pits Stimme klang laut und schrill. "Aber er meint, es ist gar nicht sicher, daß die Straße überhaupt gebaut wird. Er meint, das mit der Straße ist nur ein Vorwand. In Wirklichkeit haben sie viel Geld mit dem wertvollen Holz verdienen wollen." "Sie haben das gemacht", sagte ich leise. "Sie, sie - wer sind Sie?" "Na ja, die Stadt, der Bürgermeister, die, die was zu sagen haben eben." Eine seltsame Zweiteilung existierte in der Erwachsenenwelt. Einmal gab es die persönlichen Erwachsenen, also Eltern, Onkel, Tanten, Lehrer. Die hatten zwar ihre Launen, manche waren nett, andere weniger, aber man konnte mit ihnen zurechtkommen. Und dann gab es diese seltsamen, anonymen SIE, die Erwachsenen. SIE fällten Bäume, bauten überall Straßen und stinkende Fabriken. Von diesem Tag an betraten wir unser Reich immer seltener. Rechts vom Weg, um die alte Kiesgrube herum, war der Wald zwar unversehrt, doch auf dem Weg dorthin mußten wir jedesmal an dem Niemandsland vorbei, das die gefällten Bäume hinterlassen hatten. Und allmählich vergaßen Pit und ich die Bäume. Dachsbauten bargen für uns keine Geheimnisse mehr. Es gab so viele technische Dinge, die unsere Aufmerksamkeit fesselten. Wir bastelten mit ölverschmierten Fingern an Mofas herum, verkabelten Stereoanlagen und hantierten mit Funkgeräten. Und schließlich kamen die Autos - die absolute Verkörperung von Freiheit und Erwachsensein. Ich glaube, der Erwerb meines Führerscheins war für mich damals wichtiger als das Abitur. Das ist lange her. Ich bin jetzt zweiunddreißig Jahre alt, und wieder einmal ist es Anfang August. Gestern nachmittag spielte Carmen, meine kleine Tochter, hinter dem Haus auf der Wiese. Ich saß im Gartenstuhl und schaute ihr dabei zu. Ein Tagpfauenauge flatterte umher und landete plötzlich auf Carmens kleiner Hand. Sie betrachtete staunend den Falter, der mit zitternden Flügeln dasaß. Ich mußte plötzlich daran denken, wie ich als Junge im Wald herumgestromert war. Ich hatte eigentlich über alles gestaunt, mich fast immer gewundert. Und heute? Verbringe ich meine Zeit vor dem Computer, jongliere mit Zahlen, hinter denen ich die natürliche Welt der Buchen, Eidechsen und Tagpfauenaugen verschwinden lasse wie einen fernen, schemenhaften Traum. Heute nachmittag fuhr ich nach Geschäftsschluß der Sparkasse, in der ich angestellt bin, hoch ins Neubaugebiet am Waldfriedhof. Erfreulicherweise ist es nicht weiter den Hang emporgewuchert. Am Ende des Straßenstumpfes hat man einen kleinen Wendeplatz angelegt. Dort parkte ich mein neues Auto. Ich ging den Pfad hinter dem Friedhof hoch, auf dessen großer Wiese, wo man seinerzeit die Obstbäume gefällt hatte, immer noch Platz ist für manches Grab. Seit vielen Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Mein Herz klopfte wie bei einem kleinen Jungen auf Abenteuersuche. Ich ging an den Brombeersträuchern vorbei. Aus dem Gebüsch dahinter sind Bäume geworden. Ein Eichelhäher schimpfte laut. Ich blieb stehen. Hier. Hier hatte Pit vor nun zwanzig Jahren meinen Arm berührt und mir aufgeregt den Kahlschlag gezeigt. Wo war die Zeit? Ich glaubte fast, wieder Pits Hand zu spüren. Ich zündete mir eine Zigarette an und stand schweigend da. Vögel waren zu hören, und der Wind in den Bäumen. Pits Vater hatte Recht behalten. Die Umgehungsstraße ist tatsächlich nie gebaut worden. Sie hatten den Kahlschlag mit Fichten aufgeforstet, jetzt etwa sieben, acht Meter hoch. Sie. Die Erwachsenen. Ich schüttelte den Kopf und lachte ein kleines, bitteres Lachen, das einen unangenehmen Nachgeschmack auf der Zunge hinterließ, wie der gelbliche Belag nach einer durchzechten Nacht. Vielleicht sollte ich den Badezimmerspiegel zuhängen, dachte ich, oder einfach nicht mehr hineinschauen. Aber natürlich war das keine Lösung, schließlich war ich ja erwachsen. Mal wieder für Greenpeace spenden, um die Waldkobolde zu besänftigen? Das schon eher. Ich drückte die Zigarette auf dem Waldboden aus, holte tief Luft und schlug mich nach rechts ins Gebüsch. Auf dieser Seite, bei den drei engen Talfurchen, ist der Wald unversehrt. Es scheint sich dort in all den Jahren gar nichts verändert zu haben. Glatt und stumm standen die Buchenstämme im Licht. Längere Zeit irrte ich in dem Gelände umher, das einmal unser Kobold-Königreich gewesen war. Den Dachsbau habe ich nicht wiedergefunden. Und die Kiesgrube ist inzwischen so zugewuchert, daß ich nicht feststellen konnte, ob der alte Lastwagen noch an seinem Platz steht.
Copyright © 1994, 2006 by Thomas Görden, Ahrweg 21, 53545 Linz am Rhein. Alle Rechte vorbehalten.
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