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Thomas Görden
Der Delphin
Jedesmal versetzt es mir einen Stich ins Herz, wenn ich lese, daß die Treibnetzfischerei kein Ende nimmt und nach wie vor in allen Weltmeeren riesige Netze ausgebracht werden, in denen Tausende von Delphinen qualvoll sterben müssen. Ich habe zu diesen geheimnisvollen Geschöpfen des Meeres eine ganz besondere Beziehung. Schuld daran ist ein sonderbares Erlebnis, das ich vor einigen Jahren an der Südküste Kretas hatte, am Libyschen Meer.
Ich bin Schriftsteller und hatte mich für ein paar Wochen nach Ierapetra zurückgezogen, um in der orientalischen Ruhe dieser Stadt, wo schon der warme Wind Afrikas herüberweht, einen Roman fertigzustellen. Tagsüber saß ich auf dem Balkon meines Hotelzimmers vor der Schreibmaschine und schwamm anschließend im Meer, dessen Wasser mir in diesem Jahr außergewöhnlich klar und mild zu sein schien. Abends erfreute ich mich dann, vor einer der Strandtavernen sitzend, am Anblick der vielen über die Uferpromenade spazierenden Menschen.
Als ich an einem solchen Abend an der Promenade saß, rauchte und Rotwein trank, ging eine junge Frau dicht an mir vorbei. Sie trug ein kurzes, ozeanblaues Sommerkleid, und sie war außerordentlich schön, mit einem fein gezeichneten Gesicht, schimmernden, gewellten dunklen Haaren und dem kräftigen, sonnengebräunten Körper einer geübten Schwimmerin. Was meine Aufmerksamkeit fesselte, war jedoch nicht in erster Linie ihre Schönheit. Hübsche junge Touristinnen gab es in Ierapetra recht viele.
Das Besondere an dieser jungen Frau war ihre Traurigkeit. Es mag übertrieben klingen, aber ich konnte mich nicht erinnern, je zuvor einen so traurigen Menschen gesehen zu haben. Traurigkeit zeigt sich nicht nur im Gesicht, sondern ebenso in der Art, wie eine Person den Kopf und die Schultern hält, und wie sie geht. Und die junge Frau war geradezu in eine dunkle Aura der Schwermut gehüllt, die in völligem Gegensatz zu der friedlichen Abendstimmung am Meer stand.
Nicht weit von mir entfernt setzte sie sich auf eine Bank hinter dem Geländer der Ufermauer und schaute hinaus aufs Wasser. Ich konnte nicht anders, als immer wieder zu ihr hinzusehen, tief berührt von dem traurigen Schleier auf ihrem schönen Gesicht. Geraume Zeit später, als es schon dunkel wurde, stand die junge Frau, nachdem sie so lange still dort gesessen hatte, ganz plötzlich auf, und ich sah sie eilig davongehen, hastig in den Gassen der Stadt untertauchen.
Während ich meinen Wein austrank, dachte ich über ihre seltsame Traurigkeit nach. Wie konnte jemand in diesem sonnigen Urlaubsklima in einer solchen Gemütsverfassung sein? Hatte ihr Freund sie betrogen? Hatte sie eine schreckliche Nachricht von zu Hause erhalten?
Am folgenden Abend setzte ich mich vor der Taverne an denselben Tisch, erfüllt von der vagen Hoffnung, die junge Frau möge wieder auftauchen. Und das Wunder geschah. Ungefähr zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor kam sie, im selben blauen Kleid, setzte sich wieder auf ihre Bank und blickte melancholisch aufs Wasser. Ich zahlte, stand auf und ging zu ihr, was mich einige Überwindung kostete, denn ich bin von Natur aus schüchtern. Ich fragte auf deutsch, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Sie drehte sich zu mir um, sagte: ja, bitte, und schaute dann wieder schweigend übers Meer.
Eine Weile saß ich neben ihr, dann sagte ich, in der Hoffnung, sie würde es nicht als plumpen Annäherungsversuch auffassen: Ich hätte sie gestern abend schon von der Taverne beobachtet. Sie sehe sehr traurig aus. Ob es sie erleichtern würde, darüber zu sprechen. Sie blickte mich aus azurblauen Augen mit einem wehmütigen Lächeln an und sagte, es gebe eine Traurigkeit, die sich nicht durch Worte lindern lasse. Ich lud sie zu einem Glas Wein ein. Zu meiner Überraschung nahm sie die Einladung an und kam mit mir.
Während der Abend herabsank, und an den Tavernen die Lichter eingeschaltet wurden, saßen wir bei einer Flasche Wein. Ich bot ihr von meinen Zigaretten an, doch sie lehnte mit einem sanften Lächeln ab. Sie, ihr Name war Doris, und sie sprach fließend Deutsch, überließ mir weitgehend das Reden, hörte aber aufmerksam zu, schien meine Worte regelrecht zu trinken, als eine willkommene Ablenkung von ihrem Kummer. Ich erzählte ihr von dem Roman, an dem ich schrieb. Von sich gab sie nicht viel preis, nur daß sie als Urlauberin auf Kreta sei, daß sie immer am Meer Urlaub mache. Als sie vom Meer sprach, leuchteten ihre Augen für einen kurzen Moment auf. Sie sagte, sie sei eine leidenschaftliche Schwimmerin.
Trotz ihrer Schwermut strahlte Doris Freundlichkeit und Wärme aus. Und ein paarmal während unserer Unterhaltung lächelte sie, doch ich spürte deutlich, daß sie das mir zuliebe tat, nicht weil es mir gelungen wäre, sie aufzuheitern. Schließlich wollte sie aufbrechen. Ich sagte ihr, daß ich sie gerne wiedersehen wollte. Dabei war wohl vor allem Neugierde im Spiel. Mir schien, daß sich hinter Doris' Traurigkeit ein ungewöhnliches Geheimnis verbarg, und welcher Schriftsteller fühlte sich nicht von Geheimnissen angezogen?
Doris zögerte einen Moment, dann sagte sie, eine halbe Busstunde von Ierapetra entfernt gebe es eine einsame kleine Bucht. Dort wolle sie morgen schwimmen gehen, und ich könne sie ja begleiten. Wir machten eine Uhrzeit aus, wann wir uns an der Busstation treffen wollten. Als ich am nächsten Tag dorthin ging, bezweifelte ich sehr, daß Doris tatsächlich kommen würde.
Doch sie war da. Den braungebrannten, etwas breitschultrigen Schwimmerinnen-Körper wieder im selben ozeanblauen Sommerkleid, schaute sie mich aus ihren blauen Augen schwermütig an. Während der Bus über die kurvige Küstenstraße rumpelte, überließ sie, wie schon am Abend zuvor, weitgehend mir das Reden, schenkte mir lediglich hin und wieder ihr sanftes, melancholisches Lächeln. Der Bus hielt bei einem leerstehenden Haus und einigen halb verfallenen Gewächshäusern, deren Plastikplanen der Wind zerfetzt hatte. Wir stiegen aus, und Doris sagte: "Komm!"
Sie lief so rasch einen schmalen Pfad zum Meer hinunter, daß ich Mühe hatte, ihr zu folgen. Dort lag tatsächlich eine kleine, völlig einsame Bucht mit schmalem Sandstrand.
Doris schien meine Gegenwart völlig vergessen zu haben. Von einer mir unerklärlichen Unruhe befallen, rannte sie zum Strand, riß sich ihr Kleid regelrecht vom Leib. Darunter kam ein Badeanzug in einem noch leuchtenderen Ozeanblau zum Vorschein. Dann stürzte sie sich ins Wasser, als sei sie vor irgendetwas auf der Flucht, und schwamm mit raschen, kräftigen Zügen hinaus. So schnell ich konnte, zog ich mich bis auf die Badehose aus und folgte ihr.
Etwa in der Mitte der Bucht drehte sich Doris zu mir um. Zu meinem Erstaunen lachte sie plötzlich über das ganze Gesicht und winkte mir fröhlich zu! Ich holte sie ein, und nun plantschte sie mit mir so ausgelassen und vergnügt im Wasser herum, daß ich es kaum glauben konnte. Wie durch ein Wunder schien das Meer alle Traurigkeit von ihr abgewaschen zu haben.
Ich halte mich für einen geübten Schwimmer, aber nie zuvor hatte ich einen Menschen sich mit solcher Gewandtheit und Geschmeidigkeit im Wasser bewegen sehen wie Doris. Sie drehte sich auf den Bauch, auf den Rücken, tauchte elegant wie ein Fisch, um dann prustend und lachend wieder an die Oberfläche zu kommen. Es war eine Freude, ihr dabei zuzusehen. Dann bezog sie mich in dieses Spiel mit ein und wir tanzten fröhlich im klaren, an diesem Tag besonders ruhigen Wasser.
Schließlich, als ich anfing, müde zu werden - Doris schien im Wasser über unbegrenzte Ausdauer zu verfügen - schwammen wir zum Strand zurück. Während wir unsere Körper von der Sonne trocknen ließen, erzählte Doris, deren offenbar im Meer wiedergewonnene Fröhlichkeit zunächst anzuhalten schien, mit begeistert leuchtenden Augen und lebhaften Gesten von den großen blauen Delphinen im Palast von Knossos, diesem eindrucksvollen Überbleibsel aus der Zeit der Minoer.
"Nach ihren Wandgemälden zu urteilen, müssen die Minoer ein sehr buntes, lebensfrohes Volk gewesen sein", sagte ich.
"Ja", sagte Doris, "und sie haben das Meer und seine Geschöpfe geliebt, ganz besonders die Delphine. Sie glaubten, daß Delphinseelen und Menschenseelen eng verwandt sind, nur daß dem Menschen ein Körper aus dem Lehm der Erde gegeben wurde, während der Körper des Delphins aus dem Schaum des Meeres gemacht ist."
Besorgt beobachtete ich, wie sich wieder der beunruhigende Schleier der Traurigkeit über Doris' Gesicht legte, trotz der idyllischen Schönheit, von der wir hier in der kleinen Bucht umgeben waren.
Sie stand auf, sagte leise und rasch: "Laß uns zurückfahren." In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie wandte sich ab, zog eilig ihr Kleid über und lief, ohne sich nach mir umzudrehen, den Pfad zur Bushaltestellte hoch.
Im Bus war sie so schweigsam wie auf der Hinfahrt, doch jetzt lächelte sie noch nicht einmal mehr und wich meinen Blicken aus. Ich bestand darauf, sie zu ihrem Hotel zu begleiten. Als wir dort ankamen, gab sie mir ihre Hand, die sich trotz der Sommerwärme kühl anfühlte, und sagte: "Mach's gut. Ich danke dir für deine Freundlichkeit. Du hast mir noch einen wunderschönen Tag geschenkt."
Den ganzen Abend verbrachte ich vor der Schreibmaschine, um meinen durch den Ausflug mit Doris entstandenen Rückstand aufzuholen. Zwischendurch dachte ich immer wieder an sie und ihre sonderbaren Stimmungsumschwünge. Es muß schon weit nach Mitternacht gewesen sein, als ich endlich die Schreibmaschine ausschaltete und mich ins Bett legte.
Nun ergriff ein Gedanke von mir Besitz, der mich zusehends quälte und wachhielt: Plante Doris am Ende, Selbstmord zu begehen, sich im Meer zu ertränken? War sie deshalb hierher gekommen? Es gab beunruhigende Anzeichen: Da war ihre unergründliche Schwermut. Und sie hatte diese seltsame Formulierung gebraucht: noch einen wunderschönen Tag.
Schließlich fiel ich doch in einen unruhigen Schlaf. Irgendwann sah ich im Traum, wie Doris am Strand ihr blaues Kleid abstreifte und nackt, mit einem Ausdruck unendlicher Traurigkeit im Gesicht, in die Wellen stieg.
Abrupt wachte ich auf. Draußen schien bereits die Sonne. Ich sprang aus dem Bett, zog mich rasch an und rannte durch die morgendlichen Straßen Ierapetras, so schnell ich konnte, zu ihrem Hotel. Ich wollte alles tun, was in meiner Macht stand, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Und ich betete, daß ich noch rechtzeitig kam.
An der Rezeption saß ein älterer, grauhaariger Kreter. Zum Glück stellte sich heraus, daß er recht gut Englisch sprach. Ich fragte ihn nach Doris, von der ich ja nur den Vornamen wußte. "Sorry", sagte er, "die junge Dame ist heute ganz früh abgereist." Er schaute auf die Uhr. "Schon vor etwa zwei Stunden."
Also kam ich zu spät. Oder war sie tatsächlich abgereist, hatten sich meine Befürchtungen als unbegründet erwiesen? Der Portier lächelte plötzlich. "Sind Sie Robert, der Schriftsteller?" fragte er. Ich nickte. Er hielt mir einen Brief hin. "Hier. Sie sagte: 'Wenn Robert, der Schriftsteller, nach mir fragt, geben Sie ihm das.'" Er schüttelte den Kopf. "Sie war ein lieber Gast, immer freundlich. Aber leider so traurig." Also hatte auch er es bemerkt.
Ich bedankte mich, ging nach draußen, lehnte mich gegen die kühle, weiße Hauswand und riß den Brief auf. Er war mit leuchtend blauer Tinte geschrieben, in einer feinen, harmonischen, wie Meereswellen geschwungenen Handschrift. Der Inhalt bestätigte, was ich befürchtet hatte:
Lieber Robert,
weil ich sicher war, daß Du nach mir fragen würdest, habe ich diesen Brief für Dich hinterlegt. Noch einmal möchte ich Dir von Herzen für Deine Freundlichkeit danken. Du hast es mir ermöglicht, diese letzten Stunden in der Gesellschaft eines mitfühlenden menschlichen Wesens zu verbringen. Dennoch steht mein Entschluß unabänderlich fest. Ich fahre zu der Bucht, wo wir gestern zusammen geschwommen sind, und beende ein Leben, in dem ich nicht glücklich sein kann. Mach Dir bitte keine Vorwürfe. Du hättest nichts sagen oder tun können, um mich von diesem Vorhaben abzubringen. Leb wohl!
- Doris
P.S.: Da ist etwas, worum ich Dich bitte: Ich lasse meine Sachen am Strand zurück. Würdest Du sie für mich verbrennen, als Abschiedsritual zum Ende meines bisherigen Lebens?
Ich stürzte wieder nach drinnen zur Rezeption und erklärte dem Portier rasch, und so gut ich es auf englisch konnte, die Lage. "Wie furchtbar!" rief er. "Schnell, kommen Sie!"
Er eilte mit mir in den Innenhof des Hotels zu einem alten, verbeulten Fiat. Ich beschrieb ihm die Stelle, und wir brausten zunächst laut hupend durch die Gassen Ierapetras und dann in halsbrecherischem Tempo über die Kurven der Küstenstraße. Doris hatte vor zwei Stunden das Hotel verlassen, dann vermutlich den ersten Bus genommen. Das bedeutete, daß sie schon fast eine Dreiviertelstunde an der Bucht sein mußte. Meine einzige Hoffnung war, daß sie mit ihrem Vorhaben zögerte, unschlüssig am Strand saß. Vielleicht kamen wir gerade noch rechtzeitig.
Der Portier stoppte mit quietschenden Reifen an der Bushaltestelle. Wir rannten hinunter zum Strand. Da stand ein Rucksack. Da lag Doris' blaues Kleid. Meine Augen suchten verzweifelt das Wasser der Bucht ab. Ich hoffte, daß es noch nicht zu spät war, daß sie noch irgendwo dort schwamm. Ich winkte, rief nach ihr. Aber es war niemand zu sehen.
Nachdem ich eine Weile vergeblich Ausschau gehalten, gerufen und gewunken hatte, setzte ich mich traurig in den Sand. "Da ist keine Hoffnung mehr, fürchte ich", sagte der Portier. "Kommen Sie, wir fahren zurück. Ich benachrichtige vom Hotel aus die Polizei."
Ich schüttelte den Kopf. "Ich möchte noch eine Weile hierbleiben. Allein sein. Ich fahre später mit dem Bus zurück."
"Das kann ich sehr gut verstehen." Er schaute einen Moment schweigend über das Meer. "Da sind Delphine draußen", sagte er. "Ungewöhnlich, daß sie hier so nah an die Küste kommen." Er deutete weit hinaus, aber er stammte aus einem Geschlecht von Fischern und Seefahrern, und seine Augen waren offenbar schärfer als meine. Ich sah nur eine endlose Wasserfläche mit kleinen, weißen Wellenkämmen. Schließlich legte er mir mitfühlend die Hand auf die Schulter, wandte sich ab und ging davon.
Verzweifelt fragte ich mich, ob ich nicht doch irgendetwas hätte tun können, um ihren Selbstmord zu verhindern. Ich beschloß, wenigstens ihren letzten Wunsch zu erfüllen, stand auf und sammelte etwas trockenes Treibholz, das aussah wie in der Sonne gebleichte Knochen. Es ging kaum Wind, so daß ich leicht ein Feuer entfachen konnte. Als es hell brannte, nahm ich Doris' Kleid und warf es in die Flammen. Ich hatte gehofft, in ihrem Rucksack einen Ausweis oder ein Adreßbuch zu finden, doch er enthielt keine Hinweise auf ihre Identität, lediglich ein paar leichte Kleidungsstücke, die ich ebenfalls ins Feuer warf.
Eine plötzlich Böe kam vom Meer und trieb den Rauch davon. Als ich mein Gesicht in den Wind drehte, sah ich einen Delphin. Er schwamm aus der offenen See in die Bucht hinein. Der Portier hatte also recht gehabt, es waren tatsächlich Delphine draußen.
Was dann geschah, erstaunte mich so, daß ich einen Moment meine Bestürzung über Doris' Tod vergaß. Mit aus dem Wasser gehobenem Kopf schwamm der Delphin schnurgerade auf den Strand zu, genau zu der Stelle, wo ich stand und der Rauch des Feuers aufstieg. Mein Herz begann heftig zu klopfen. Noch nie hatte ich draußen in der Natur einen Delphin gesehen. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie denn nicht scheu wie alle Wildtiere? Er behielt seinen Kurs bei, und ich mußte an die Meldungen über gestrandete Delphine und Wale denken, wie sie manchmal in den Nachrichten auftauchten.
Doch im flachen Wasser dicht vor dem Strand drehte er bei und schwamm nun langsam mehrere, immer enger werdende Kreise. Er reckte den Kopf empor und stieß plötzlich ein wildes Konzert von Pfeif- und Quietschtönen aus.
Und etwas zog mich ins Wasser. Ich habe inzwischen viele Bücher über Delphine gelesen und weiß, daß manche Forscher behaupten, sie seien telepathisch gegabt und könnten durch Gedankenkraft mit uns kommunizieren. Mir erschien es magisch. Da war dieser schimmernde, stromlinienförmige Körper dort im Wasser, völlig fremd, wie die Laute, die er erzeugte, und etwas zog mich wie durch Zauberei zu ihm. Ich legte meine Kleider ab und stieg ins Wasser.
Er wich, begleitet von einem lauten Pfeifgesang, wieder einige Meter zurück. Von dort schaute er mich an und plantschte aufgeregt herum. Er war groß, sicher an die zweieinhalb Meter lang, aber ich spürte keine Angst, nur eine kribbelnde Erregung, als sei das Wasser elektrisch geladen. Als es mir bis zur Brust ging, fing ich an zu schwimmen.
Jetzt kam er nah zu mir, umkreiste mich, tauchte unter mir her, kam laut pfeifend wieder an die Oberfläche. Wenn er seine schnabelähnliche Schnauze öffnete, konnte ich seine Zähne sehen, aber er schien dabei zu lächeln, und ich fürchtete mich nicht. Ich wollte ihn berühren, streckte vorsichtig die Hand aus, und er ließ sich streicheln. Seine Haut fühlte sich glatt und fein gefurcht an.
Eine ganze Weile schwammen wir so, uns gegenseitig umkreisend und berührend, in der Bucht. Es war eine Freude, die eleganten Bewegungen des Tieres zu beobachten. Wir tanzten zusammen, und ich mußte daran denken, wie Doris am Tag zuvor hier an dieser Stelle mit mir getanzt hatte. Sie war so sicher geschwommen wie dieser Delphin. Immer wieder schaute er mich aus seinen weichen, runden Augen aufmerksam an. Irgendwann schien er zu spüren, daß ich müde wurde. Er umkreiste mich ein letztes Mal, berührte mit seiner Schnauze ganz sanft meine Brust, drehte sich herum und schwamm rasch davon, hinaus ins offene Meer, wobei er ein paarmal übermütig hoch in die Luft sprang und mit lautem Klatschen wieder in sein Element eintauchte.
Schließlich sah ich ihn nicht mehr, kehrte an Land zurück und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Als mein Körper abgetrocknet war, stand ich auf und wandte mich mich vom Meer ab. Das Feuer war heruntergebrannt, von Doris' Sachen blieben nur ein paar verkohlte Fetzen. Ich ging hinauf zur Straße und wartete auf den Bus.
Während der Bus nach Ierapetra zurückrumpelte, mußte ich daran denken, wie Doris mir von dem Glauben der Minoer erzählt hatte, Delphinseelen und Menschenseelen seien eng verwandt. Was hatte der Delphin dort gewollt? Bei mir? Ich ging zu Doris' Hotel und erzählte dem Portier, was ich erlebt hatte. Er wiegte den Kopf. "Von alten minoischen Sagen verstehe ich nichts, aber mein Großonkel, der ist ein lebendes Geschichtsbuch." Er bestand darauf, daß ich mit diesem Großonkel reden müsse. Wir trafen ihn in einem Kafenion, und er schien mir uralt zu sein, als sei er mit einer der minoischen Ruinen ausgegraben worden, ein Gesicht wie ein Küstenfelsen.
Als ich ihm von Doris und von dem Delphin erzählte, falteten sich seine Wangen zu einem Grinsen. "Es gibt eine Sage, die die meisten Leute vergessen haben", sagte er in brüchigem Englisch. "Nur ein paar Alte wie ich kennen sie noch. Das heißt, sie ist mir jetzt wieder eingefallen. Weil Delphinseelen und Menschenseelen so nah verwandt sind, kommt es manchmal vor, daß sich ein Delphin in einen Menschenkörper verirrt. So ein Mensch ist an Land zeitlebens ein Fremder, mit unstillbarer Sehnsucht nach dem Meer. Irgendwann wird er hinausschwimmen und die Meergöttin bitten, den Fehler zu beheben und ihm einen anderen Körper zu geben, einen, der aus dem Schaum des Meeres gemacht ist. Manchmal wird diese Bitte erhört."
Dieser Delphin war mit mir geschwommen wie Doris. In dem Brief hatte sie von "ihrem bisherigen Leben" gesprochen. War ihre Bitte erhört worden, und war sie noch einmal zurückgekommen, um sich von mir zu verabschieden?
Der Großonkel des Portiers grinste wieder zerfurcht. "Natürlich ist das nur eine dumme, alte Sage. Kein moderner Mensch glaubt sowas."
Vom Rest des Abends ist mir nur in Erinnerung, daß der Portier, der Alte und ich sehr viel Raki tranken. Am nächsten Morgen wachte ich spät, mit einem fürchterlichen Kater, in meinem Hotelzimmer auf, in das der Portier mich offenbar geschafft hatte.
Das liegt einige Jahre zurück. Bis heute weiß ich nicht, was ich glauben soll. Sind Menschen und Delphine seelenverwandt? War es ein bloßer Zufall, daß dieser Delphin am Strand auftauchte, oder können sich tatsächlich Menschen in Delphine verwandeln, und wohlmöglich Delphine in Menschen? Ein Indiz immerhin gibt es: Wenn Menschen sich in den Wellen das Leben nehmen, behält das Meer sie nicht, sondern wirft sie, wie Fremdkörper, die nicht in dieses Element gehören, nach kurzer Zeit zurück an den Strand. Doris' Körper aber wurde nie angespült.
Copyright © 1999 by Thomas Görden, Linz am Rhein. Alle Rechte vorbehalten. (Veröffentlicht in: Wolfgang Hohlbeins Fantasy Selection 2000, Weitbrecht Verlag.)
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