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Thomas Görden

 

Corporate Identity - Im Dienste des Konzerns

 

Es war kein Wunder, daß Ben sich nicht gerne erinnerte. Ben hatte seine leiblichen Eltern nie kennengelernt. Seine Kindheit hatte er nacheinander in drei Waisenhäusern verbracht, die alle nach Linoleum und Großküchenessen rochen. Die einzige Blutsverwandte, an die er sich erinnerte, war eine längst verstorbene Tante, die ihn gelegentlich besucht hatte, gehüllt in eine Wolke aus billigem Parfüm und schlechtem Gewissen, das sie mit großen Schokoladentafeln kompensierte. Die Schulzeit verging unter einem grauen, schweren Nebel der Einsamkeit und Depression. Nach dem Wehrdienst machte er eine Ausbildung zum Programmierer und erhielt einen Job hier in der Konzernzentrale. Nun, mit Mitte Zwanzig, saß er zusammen mit vielen anderen jungen Leuten in einem der Großraumbüros vor seinem Computer und suchte nach Fehlern in Buchhaltungsprogrammen.

Dort saß er auch an jenem Morgen, als die Abteilungsleiterin plötzlich am Eingang stand, mit einem Mann, den Ben nicht kannte. Sie lächelte Ben an und winkte ihn zu sich. Der Mann lächelte ebenfalls. Er war älter als sie, mit kurzen, grauen, sauber gescheitelten Haaren. "Das ist Dr. Falk, von der Forschungsabteilung. Er möchte sich mit Ihnen unterhalten, Ben."

Dr. Falk gab ihm die Hand und forderte Ben auf, ihn "nach drüben" zu begleiten. "Drüben" befanden sich die Laborhallen und die in einem parkartigen Gelände verstreuten Flachbauten der Konzernforschung, in die Ben noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Sie gingen durch den sonnenbeschienenen Park in ein kleines, pavillonartiges Gebäude, das mit seinen wenigen Räumen an eine Arztpraxis erinnerte. Dr. Falk setzte sich hinter einen Schreibtisch aus dunklem Holz und bot Ben freundlich Platz in einem ledernen Besuchersessel an.

"Sie sind allein, Ben, nicht wahr?" sagte er. "Ich meine: ganz allein."

Ben senkte den Blick. Es gab in der Tat niemanden. Keine Familie. Nichts, außer ein paar flüchtigen Bekanntschaften mit Kollegen.

"Wären Sie denn gerne ... zu zweit? Könnten Sie sich vorstellen, Ihr Leben mit einer Frau zu teilen?"

Ben senkte seinen Blick noch tiefer zu Boden. Vorstellen konnte er sich das ...

"Sehen Sie, Ben, wir haben Sie ausgesucht, weil Sie für das, was wir Ihnen vorschlagen möchten, ideale Voraussetzungen mitbringen. Sie besitzen keine nahen Angehörigen und wohnen allein, so daß eine gewisse ... Privatheit gewährleistet wäre. Sie bekämen von uns kostenlos eine größere Wohnung gestellt, hier auf dem Konzerngelände, eine Wohnung, die groß genug wäre, um darin mit einer Frau zu leben, als glückliches Liebespaar."

Ben schaute Dr. Falk erstaunt an. Der grauhaarige Mann nahm ein Foto aus der Schublade und legte es vor Ben hin. "Könnten Sie sich vorstellen, mit dieser Frau zusammenzuleben?"

Die Frau auf dem Foto war jung und wunderschön.

"Das ist Lara", sagte Dr. Falk. "Wie alt ist sie Ihrer Meinung nach? Was schätzen Sie?"

"Nun, drei- oder vierundzwanzig, würde ich sagen."

Dr. Falks Augen wurden schmal. Er schaute Ben ernst an. "Lara ist vier Monate alt, Ben."

"Aber, das kann nicht sein!" Ben schüttelte ungläubig den Kopf.

"Doch", sagte Dr. Falk. "Lara ist eine Androidin. Sie ist ... ein Prototyp. Sie ist das teuerste Projekt, das der Konzern in den letzten Jahren gestartet hat."

Was der Konzern alles entwickelte, herstellte und verkaufte, ließ sich nur schwer überblicken. Es war ein unglaublich großer Konzern, und Ben war in diesem System nur eine winzige Ameise an einem winzigen Computerbildschirm. "Sie ist eine Maschine?" fragte er.

Dr. Falk schüttelte den Kopf. "Nein, Ben. Sie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber sie ist nicht in einer Gebärmutter herangewachsen, sondern in der Retorte erzeugt worden, und zwar fertig ausgewachsen. Sie hatte keine Kindheit."

Angesichts seiner eigenen Kindheit erschien Ben das als ein geradezu paradiesischer Zustand.

"Aber sie ist trotzdem ein Mensch aus Fleisch und Blut. Würde man sie töten und obduzieren, ließe sich kein Unterschied zu einem auf normalem Wege gezeugten Menschen feststellen - mit einer Ausnahme: ihr Gehirn ..."

Ben war zwischen Faszination und Entsetzen hin- und hergerissen. "... ist ein Computer."

"Nein. Sie hat ein ganz normales menschliches Gehirn, aber auf ihrer Großhirnrinde sind mehrere Mikrochips implantiert, mit deren Hilfe wir Laras Gehirnfunktionen überwachen und beeinflussen."

Ben verzog das Gesicht. "Aber, dann ist sie eine Sklavin, ohne freien Willen!"

Dr. Falk lächelte. "Nein, Ben. Ein Sklave ist sich seiner Unfreiheit bewußt und leidet darunter. Lara weiß nicht, daß wir ihre Wünsche und Antriebe kontrollieren."

Ben blickte einen Moment aus dem Fenster und betrachtete dann Laras Foto. Sie war wirklich wunderschön. "Kann ich sie sehen?"

"Ben, wir haben Sie ausgewählt, weil wir Sie für pflichtbewußt, diszipliniert und vernünftig halten. Diese Aufgabe erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl. Lara weiß nicht, daß sie eine Androidin ist. Und wir wollen auch nicht, daß sie es je erfährt."

Ben starrte Dr. Falk mit großen Augen an. "Sie weiß es nicht? Aber sie muß doch wissen, daß sie keine ... keine Vergangenheit hat!"

Dr. Falk entgegnete kühl: "So, muß sie das? Woraus bestehen denn Erinnerungen? Aus im Gehirn gespeicherten Bildern und Sinneseindrücken. Wir haben Lara eine virtuelle Vergangenheit geschaffen. Ihre Eltern und ihre einzige Schwester sind bei einem Flugzeugabsturz umgekommen, als sie zwölf war. Dann ist sie von Dr. Jacobs adoptiert worden, einer Wissenschaftlerin, die hier bei uns beschäftigt ist. Es ist alles bestens präpariert. Wenn Sie bereit sind, Stillschweigen zu bewahren, wird sie es nie erfahren. Wir möchten ihr das Trauma ersparen, das mit dem Erkennen ihrer wahren Indentität verbunden wäre."

"Aber was ist, wenn Lara nachforscht und Fragen stellt?"

Dr. Falk zuckte die Achseln. "Warum sollte sie das tun? Die Erinnerungen, die wir ihr mitgegeben haben, sind schlüssig und stimmig. Wer stellt schon seine eigene Vergangenheit in Frage? Unsere Erinnerungen sind für uns doch etwas völlig Selbstverständliches. Oder würden Sie etwa auf die Idee kommen, Ihre Vergangenheit in Frage zu stellen?"

Nein, auf diese Idee würde Ben gewiß nicht kommen, dazu hatten sich die vielen Schmerzen und Enttäuschungen viel zu tief in seine Seele eingegraben - die Prügel, die er von anderen Heiminsassen und ungeduldigen Erziehern bezogen hatte, die Tante als einziger Besuch, die nichts für ihn hatte außer Schokolade, die Isolation in der Schule.

"Und wenn Lara an ihrem Kopf irgendwelche Narben entdeckt? Vom Einsetzen dieser Chips?"

"Es ist äußerlich nichts zu sehen. Der Zugang erfolgt über die Nase und die Stirnhöhlen." Dr. Falk macht eine bedeutungsvolle Pause, beugte sich vor und sagte: "Ich frage Sie nun Ben: Sind Sie bereit, an unserem Projekt mitzuwirken und Lara ein Heim zu geben, ihr ein guter Mann zu sein?"

Ben starrte auf das Foto. Sie hätte schöner nicht sein können, und mochten sie ihr auch Chips ins Gehirn gepflanzt haben, so war sie doch, wie Dr. Falk gesagt hatte, eine Frau aus Fleisch und Blut, und Ben würde sie in seinen Armen halten. Er nickte.

 

 

 

Wenige Tage später konnte Ben die neue Wohnung in einem der Bungalows auf dem Konzerngelände beziehen. Sie war hell und geräumig, mit einer schönen Terasse und Blick auf den Park. Dr. Falk arrangierte ein erstes Treffen mit Lara, das in einem Eiscafé drüben an der Flußpromenade stattfand. Sie saß allein auf der Caféterrasse und schaute aufs Wasser, als Ben mit klopfendem Herzen und einer Rose in der Hand auf sie zu ging. Er räusperte sich verlegen. Sie drehte den Kopf und lächelte ihn an. "Dann bist du der nette Computerprofi aus der Buchhaltung, von dem meine Adoptivmutter erzählt hat?"

Laras Stimme war ebenso angenehm wie ihr Äußeres, und Ben rauschte mit vollen Segeln in ein Beziehungsglück, das im bis dato unvorstellbar erschienen war. Noch am gleichen Abend gaben sie einander den ersten Kuß, und eine Woche später zog Lara bei ihm ein.

Sie gab ihm alles, was Ben sich je von einer Frau erträumt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er beinahe glücklich. Und er fand keinerlei Hinweis darauf, daß Lara anders war, daß sie keine Vergangenheit besaß. Im Gegenteil, sie erzählte gern und lebhaft von ihrer Kindheit vor dem tragischen Unglück, durch das sie Eltern und Schwester verloren hatte. Ihre Eltern mußten wunderbare Menschen gewesen sein, und mit ihrer älteren Schwester hatte sie sich gut verstanden, was ja keineswegs selbstverständlich war. Auch hatte sie in Dr. Jacobs eine Adoptivmutter gefunden, von der sie stets mit großer Zuneigung sprach.

Einmal wöchentlich mußte Ben Dr. Falk aufsuchen, zu einem "Briefing", wie es genannt wurde. Es fand während Laras Arbeitszeit statt, so daß sie davon nichts mitbekam. Lara arbeitete, ganz ähnlich wie Ben, an einem Computer, nur in einer anderen Abteilung, im Controlling. Bei den Briefings erkundigte sich Dr. Falk stets detailliert nach Laras Verhalten. "Irgendwelche Auffälligkeiten?" fragte er, "Erinnerungslücken? Momente geistiger Abwesenheit?"

Ben schüttelte jedesmal den Kopf. "Sie ist die beste Frau, die man sich nur wünschen kann."

"Sie ist nur ein Prototyp", entgegnete Dr. Falk, lächelte aber sichtlich zufrieden.

Während der ersten Wochen ihrer Beziehung fand Ben es immer unglaublicher, daß Lara keine normale Frau sein sollte, sondern ein erst vor wenigen Monaten künstlich erschaffenes Retortenwesen. Vielleicht wollte er aber auch einfach nichts davon wissen, weil er mit ihr so glücklich war. In ihrem Verhalten gab es lediglich eine Sache, die ihn gelegentlich etwas irritierte: Er hatte das Gefühl, das sie ihn manchmal verstohlen beobachtete, auf eine Art, die irgendwie beklemmend wirkte, als stimme mit ihm irgendetwas nicht. Wenn er sie dabei ertappte, senkte sie immer verlegen den Blick, und er mochte sie nicht darauf ansprechen.

Als er das bei einem Briefing erwähnte, winkte Dr. Falk ab. "Ich glaube nicht, daß es von Bedeutung ist. Beachten Sie es einfach nicht weiter, Ben."

Lara war eine so lebendige, natürliche junge Frau. Von Tag zu Tag zweifelte Ben immer mehr daran, daß Dr. Falks Geschichte stimmte. Lara nahm die Pille, doch weil Ben so glücklich mit ihr war, begann er an Heirat zu denken und daran, Kinder zu zeugen. Er hatte sich eigentlich immer Kinder gewünscht. Er würde ihnen ein guter Vater sein, ihnen all das geben, was er selbst in seiner Jugend entbehren mußte. "Kann Lara Kinder bekommen?" fragte er Dr. Falk.

"Das ist im gegenwärtigen Stadium des Projektes nicht vorgesehen", lautete die Antwort, aber Ben war die Enttäuschung wohl so deutlich anzusehen, daß Dr. Falk lächelnd hinzufügte: "Nun, grundsätzlich ist es natürlich möglich. Später, vielleicht."

 

 

 

Die Frage, ob Dr. Falks Geschichte stimmte, wurde für Ben zusehends zur Qual. Lara mußte ganz einfach eine normale Frau sein. Sie war ein richtiger Mensch, daran bestand für Ben kein Zweifel. Aber wenn das so war, warum log Dr. Falk und tischte ihm dieses Märchen von der Androidin auf? Was war der Sinn des wissenschaftlichen Experiments, das ihre Beziehung für Dr. Falk zweifelsohne darstellte? Ben liebte Lara von Herzen, wollte sein ganzes Leben mit ihr verbringen und Kinder von ihr haben. Und er wollte sie für sich allein - nicht als Teil eines obskuren Experiments. Auch wenn er das bei den Briefings noch zu verbergen versuchte, fing er an, Dr. Falk und dieses ganze Projekt zu hassen. Bei der Arbeit ließ seine Konzentration nach. Er beschloß, Dr. Falk zur Rede zu stellen, ihm zu sagen, daß er die Geschichte mit der angeblichen Androidin nicht länger glaubte. Er würde einen Beweis verlangen, fordern, daß Dr. Falk ihm die Retorte zeigte, in der Lara angeblich entstanden sein sollte, und Fotos von den Chips, die sie ihr ins Gehirn gepflanzt hatten. Andernfalls würde er ihm damit drohen, Lara alles zu erzählen.

Ein paar Tage später stürzte morgens plötzlich Bens Computer ab, und nicht nur seiner, sondern alle Computer in der Abteilung, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war. Der herbeigerufene Techniker machte ein ratloses Gesicht und sagte, die Sache zu beheben, werde mindestens eine Stunde dauern. Ben gab sich einen Ruck, verließ das Verwaltungsgebäude und ging durch den Park hinüber zu Dr. Falks Pavillon, fest entschlossen, sein Vorhaben nun endlich in die Tat umzusetzen. Ehe er den Pavillon betrat, warf er einen kurzen Blick durch das große Fenster in Falks Büro. Der grauhaarige Doktor saß hinter seinem Schreibtisch, aber er war nicht allein: Auf dem Besuchersessel, auf dem sonst Ben bei den Briefings immer Platz nahm, saß Lara.

Einen Moment wollte Ben sich umdrehen und eilig davongehen, doch dann betrat er leise den Pavillon. Auf dem Flur war niemand zu sehen, Dr. Falks Tür geschlossen. Mit hochrotem Kopf bückte sich Ben und lauschte am Schlüsselloch.

"Verhaltensauffälligkeiten?" fragte Dr. Falk gerade. "Erinnerungslücken? Unkonzentriertheit?"

"Eigentlich nicht", sagte Lara. "Er ist immer noch ein wunderbarer Gefährte, aber in letzter Zeit steht er spürbar unter Streß. Irgendetwas quält ihn, macht ihm zu schaffen."

"Er ist nur ein Prototyp", sagte Dr. Falk. "Wir werden ihn gründlich durchchecken. Das läßt sich sicher in den Griff bekommen."

Ben hatte das Gefühl, zu ersticken. Nach Luft ringend, mit jagendem Herzen lehnte er sich neben der Tür an die Wand. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.

Dann taumelte er aus dem Pavillon. Statt an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, lief er durch den Park und irrte mit leerem Blick durch die Stadt, bis er sich schließlich matt und erschöpft auf eine Bank am Fluß setzte.

Meine Erinnerungen sind echt, sagte er sich immer wieder. Es ist ausgeschlossen, daß ich mir nur einbilde, ich hätte eine Vergangenheit. Ich weiß, daß ich all die Dinge erlebt habe, an die ich mich erinnere. Mein Gott, ich habe nach all den Jahren immer noch den Geruch des Parfüms meiner Tante in der Nase. Ich kann die Prügel, die ich einstecken mußte, noch auf der Haut spüren. Andererseits lag über den Erinnerungen an seine Schulzeit ein düsterer Grauschleier. Er versuchte vergeblich, sich an Namen und Gesichter von Lehrern zu erinnern.

Dann kam ihm plötzlich ein rettender Gedanke: Menschen aus seiner Vergangenheit. Er mußte sich mit Menschen aus seiner Vergangenheit in Verbindung setzen. Wenn sie ihn wiedererkannten, sich an ihn erinnerten, wußte er, daß es ihn damals wirklich gegeben hatte, daß seine Erinnerungen nicht lediglich virtuelle Bilder auf einem Computerchip in seinem Kopf waren.

Er eilte nach Hause und wühlte mit zitternden Fingern in seinen Unterlagen. Richtig. Vor zwei Jahren hatte er eine Einladung für ein Klassentreffen erhalten. Natürlich war er nicht hingefahren. Aber auf der Einladung stand die Adresse einer früheren Mitschülerin. Angela. Bogner hieß sie jetzt. Hatte geheiratet. Hastig wählte er die Nummer, die dort auf dem Briefkopf stand. Tatsächlich meldete sich Angela nach dem dritten Klingeln. Erst wirkte sie irritiert, dann sagte sie: "Ben? Ja, natürlich. Unsere Karteileiche. Warum bist du denn nicht zum Klassentreffen gekommen?"

Ben atmete erleichtert auf. "Sag, Angela, du erinnerst dich doch noch an mich? Von früher, meine ich?"

"Klar, Ben. Warst ein ganz Stiller. Hab dich immer ganz hübsch gefunden, aber du warst ja so unnahbar, hast niemanden an dich rangelassen."

Sie plauderten noch ein paar belanglose Sätze - sie erwartete gerade ihr zweites Kind - und legten dann auf. Erleichtert sank Ben aufs Sofa. Das war der Beweis. Er wußte nicht, was Dr. Falk, und Lara für ein Spiel mit ihm spielten - aber er war kein Androide! Es gab ihn schon eine ganze Weile. Angela hatte ihn eindeutig erkannt.

Doch es dauerte nur ein paar Minuten, bis neue Zweifel in ihm zu nagen begannen. Wenn sie seine Vergangenheit tatsächlich erfunden hatten, war diese Fälschung gewiß geschickt eingefädelt worden. Welche nachprüfbaren Fakten waren ihm denn zugänglich? Gesichter und Namen aus der Schulzeit schwammen im Nebel, doch die Erinnerung an die Einladung zum Klassentreffen war klar und deutlich gewesen. Aber hatte er diese Einladung tatsächlich vor zwei Jahren erhalten? Konnte sie nicht ebenso erst vor ein paar Wochen geschrieben und zu seinen Unterlagen gelegt worden sein? Wer war denn die Frau am anderen Ende der Leitung gewesen? Eine, die genau wußte, was sie zu sagen hatte, wenn Ben anrief. War er tatsächlich erst vor kurzem in der Retorte gezeugt worden, dann hatten sie seine Erinnerungen vermutlich so konstruiert, daß sie einer Überprüfung standhielten.

Ben preßte seine Hände an die Schläfen und stöhnte. Ich muß es wissen, dachte er, ich muß Gewißheit haben. Was bin ich? Er überlegte, in Dr. Falks Pavillon zu stürmen und den Wissenschaftler mit Gewalt zu zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber gewiß wurde dort mit dieser Möglichkeit gerechnet, und sie hatten Mittel und Wege, Ben ruhigzustellen, möglicherweise seine Erinnerungen an die letzte Zeit, an seine wunderbare Liebe zu Lara für immer auszulöschen. Lara. Sie steckte mit Dr. Falk unter einer Decke. Hatte sie ihn deshalb mitunter so merkwürdig angestarrt?

Wie kann ich herausbekommen, ob Lara aus der Retorte kommt, oder ich? Wie kann ich Gewißheit erlangen? Oder sind wir am Ende beide Androiden? Wieder wurde ihm schwindelig und er sank stöhnend aufs Sofa. Ich müßte mir ein Loch in den Schädel bohren und nachschauen, ob sich Chips darin befinden, dachte er.

Dann straffte sich sein Körper plötzlich, und er wußte, was er tun mußte. Es war grauenvoll, es war entsetzlich, aber es war die einzige Möglichkeit.

Lara kam wie immer gegen fünf von der Arbeit. "Ben?" rief sie fröhlich, "bist du schon da?"

Er sprang sie an, als sie ins Wohnzimmer kam. Sie schrie und er schlug mit dem Hammer auf sie ein, immer wieder. Als sie reglos am Boden lag, betasteten seine blutigen Finger ihren zertrümmerten Kopf, schoben die geborstenen Schädelknochen auseinander. Aber da waren keine Mikrochips. Schluchzend brach er neben ihrem toten Körper zusammen.

 

 

 

Als er zu sich kam, lag er auf einer Untersuchungsliege. Dr. Falk schaute ihn mit ausdruckslosem Gesicht an, in dem keinerlei Gefühlsregung erkennbar war. "Ich hoffe, wir haben Ihre Phantasien jetzt im Griff, Ben", sagte er.

Ben setzte sich auf. Durch die offene Tür sah er, daß er sich im Nebenzimmer von Dr. Falks Büro befand.

"Wir haben Sie wegen Ihrer Disziplin, Ihrer Loyalität und Pflichtbewußtheit für dieses Projekt ausgewählt", sagte Dr. Falk. "Ich hoffe, Ihnen ist klar, was das für eine Ehre ist. Sie sollten uns nicht enttäuschen, Ben."

"Lara ..." sagte Ben heiser.

"Sie wartet draußen im Park auf Sie. Sie hat sich Sorgen gemacht."

Benommen stand Ben auf und ging unsicher hinaus.

Lara saß draußen unter einem Baum im Gras. Als sie Ben sah, sprang sie auf, lief zu ihm und umarmte ihn. Sie war so gesund und strahlend schön wie eh und je.

"Hat Dr. Falk dir helfen können?" fragte sie.

"Ich denke schon", sagte Ben langsam.

Sie nahm ihn bei der Hand. "Komm, laß uns zum Fluß spazieren. Es ist so ein herrliches Wetter. Das wird dir bestimmt gut tun."

Es war angenehm, ihre warme, weiche, lebendige Hand in seiner zu spüren. Aber während sie unter den Bäumen davongingen, ballte er zugleich die andere Hand in der Hosentasche und dachte: Ich werde es herausfinden. Eines Tages werde ich es herausfinden.

 

Copyright  © 2000 by Thomas Görden, Linz am Rhein. Alle Rechte vorbehalten. (Veröffentlicht in: Wolfgang Hohlbeins Fantasy Selection 2001, Weitbrecht Verlag.)