Kontakt

Buddha

Thomas Görden

 

Der Buddha mit dem Klappstuhl

 

Wie alle großen Sachen begann auch diese ziemlich klein und unerwartet. Genauer gesagt, begann sie damit, daß ich mir Sorgen um meinen Freund Bodo machte. Wir kennen uns schon seit der Schulzeit, Bodo und ich. Bodo war immer schon das, was man einen gutmütigen Phlegmatiker nennen könnte. Bereits in der Schule war er ziemlich gut genährt, letzter im Sport, und daß er Erfolg bei den Mädchen gehabt hätte, ließ sich auch nicht gerade behaupten.

Nach der mit mehr Not als Mühe überstandenen Schulzeit kroch Bodo in einer beschaulichen, altväterlich geführten Großhandelsfirma unter, wo es noch Platz für Leute gab, die hinter Gründerzeitschreibtischen in geordneter Ruhe möglichst streßarm ihrer Arbeit nachgingen. Bodo zog in eine behagliche kleine Junggesellenbude. Vierzehntägig sorgte eine Putzfrau, eine resolute Rentnerin, dafür, daß die Wohnung in einem leidlich bewohnbaren Zustand blieb.

Seine Freizeit verbrachte Bodo im wesentlichen vor dem Fernseher, der ihm, wie er immer wieder sagte, die ganze Welt ins gemütliche Heim lieferte, ohne daß dafür beschwerliche Wege nötig waren. Gelegentlich ließ er sich von alten Kumpeln wie mir dazu überreden, mit ins Kino oder in die Kneipe zu kommen. Am liebsten war es ihm aber, wenn wir beim Italiener schräg gegenüber Pizza essen gingen. Und so wuchs Bodos Leibesumfang zusehends.

Für Phlegmatiker brachen im Arbeitsleben harte Zeiten an. Auch in Bodos Großhandelsfirma wehte ein anderer Wind. Die alten Gründerzeitschreibtische flogen heraus und wurden durch chromglänzende, scharfkantige, ungemütliche Metallgebilde ersetzt, und kurz danach flogen auch jene Mitarbeiter, die sich mit der von der neuen Firmenleitung geforderten Effizienz schwertaten. Bodo war einer der ersten. Alle, die ihn kannten, wußten, daß sein Weg in die Langzeitarbeitslosigkeit vorgezeichnet war. Es genügte schon, sich das Gesicht eines Personalchefs vorzustellen, wenn Bodo dick und unbeholfen zum Vorstellungsgespräch hereintapste, zaghaft die feuchte Hand ausstreckte und mit dünner Stimme schüchtern "Guten Tag" sagte - eine Viertelstunde zu spät, weil er wieder einmal den Bus verpaßt hatte.

Von nun an verbrachte Bodo also den ganzen Tag vor dem Fernseher. Immerhin genügte das Arbeitslosengeld einstweilen, um die kleine Wohnung, die Putzfrau und die Essenseinkäufe im Supermarkt zu finanzieren, zu dem Bodo nur gut hundert Meter weit zu laufen brauchte. Da Bodo nun nur noch saß und aß, nahm seine Körperfülle im Laufe der Zeit beunruhigende Ausmaße an, was ihn phlegmatischer denn je werden ließ - ein wahrer Teufelskreis. Schließlich verließ er nur noch die Wohnung, um zum Supermarkt und wieder zurück zu rollen. Zu Kino- oder Kneipenbesuchen ließ er sich gar nicht mehr bewegen, und Pizza nur noch nach Hause liefern.

Wenn wir, seine wenigen Kumpane, ihn besuchten und ihn förmlich aus dem Fernsehsessel quellen sahen, war uns klar, daß etwas geschehen mußte, wenn es mit unserem Freund Bodo kein trauriges Ende nehmen sollte. Aber was?

Eines abends saß ich mit Matthias Schulz bei Bodo. Wir tranken Bier und schauten uns "Verstehen Sie Spaß?" an. Matthias und ich saßen auf der Couch. Von Bodo in seinem Fernsehsessel war eigentlich nur der gewaltige Bauch zu sehen, auf dem er eine Schale mit Erdnußflips balancierte. Da Bodo in sehr kurzen Abständen in die Schale griff, war absehbar, daß sie bald leer sein würde. Aber Bodo hatte vorgesorgt: Neben ihm auf dem Couchtisch lagen noch drei Riesentüten mit Erdnußflips.

Matthias trank einen großen Schluck Bier, stellte die Flasche ab, holte tief Luft und sagte: "Bodo, du solltest etwas tun!"

Bodo machte den Mund leer, drehte langsam den Kopf, schaute Matthias an und fragte mit seiner dünnen, schwermütigen Stimme: "Was?"

Da guckte Matthias noch ratloser als sonst. "Na ja ... du könntest..." Um das peinliche Schweigen zu überbrücken, trank er erst einmal sein Bier aus.

"Wie wäre es mit einem Kurs in der Volkshochschule?" schlug ich vor.

"Wozu?" fragte Bodo.

"Nun ..." Wenn man es genau betrachtete, hatte er damit eine hoch philosophische Frage gestellt, und Philosophie war noch nie meine starke Seite. Ich verstummte.

Matthias' Gesicht hellte sich für einen kurzen Moment auf. "Wie wäre es mit einem Trimmrad?"

Bodo sagte nur: "Ein T-r-i-m-m-r-a-d?"

Damit war Matthias mit seinem Latein am Ende, und das leidige Thema für diesen Abend erledigt. Bodo wandte sich wieder den Erdnußflips zu.

Mir aber ließ die Sache keine Ruhe. Ja, sie raubte mir in dieser Nacht den Schlaf. In einer Schreckensvision sah ich den armen Bodo so ungeheuer fett werden wie jenen bedauernswerten Amerikaner, von dem die Bild-Zeitung berichtet hatte: Dieser Trauerkloß war vom Junk-Food derartig auseinandergegangen, daß er nicht mehr durch die Wohnungstür paßte. Als er ins Krankenhaus eingeliefert werden sollte, mußte die Feuerwehr ihn über den Balkon abseilen.

Ein solches Schicksal wollte ich Bodo ersparen. Matthias hatte recht. Bodo mußte etwas tun. Es mußte etwas sein, was er bequem zu Hause tun konnte, was ihn vom Essen abhielt und trotzdem möglichst wenig Anstrengung erforderte. Schließlich, so gegen drei Uhr morgens, kam mir endlich die Lösung. Sie war genial, sie war einfach, und ich fragte mich, wieso sie mir erst jetzt einfiel.

Gleich am nächsten Tag ging ich nach der Arbeit zu Bodo. Wie immer dauerte es ein Weilchen, bis er den Türöffner betätigte. Er erwartete einen nie an der Wohnungstür, sondern saß, wenn man eintrat, schon wieder im Fernsehsessel. Heute waren statt Erdnußflips Kartoffelchips an der Reihe, von denen ebenfalls drei Riesentüten auf dem Couchtisch lagen.

Wie anfangen? "Bodo ..." begann ich vorsichtig, "Willi hat schon recht. Du solltest wirklich etwas tun."

 Ohne vom Fernseher aufzublicken, auf dem irgendeine Nachmittags-Seifenoper flimmerte, sagte Bodo: "Wozu was tun? Die Welt braucht doch niemanden wie mich."

 Sicher, philosophisch betrachtet mochte er recht haben. Trotzdem war dieser Standpunkt unakzeptabel. "Hast du schonmal daran gedacht, es mit Meditation zu versuchen?" fragte ich und hoffte, er fand diesen Vorschlag ebenso genial wie ich.

 Immerhin kam eine überraschende Bewegung in ihn. Er stellte die Knabberschale auf den Tisch, setzte sich im Sessel auf und wandte mir sein Vollmondgesicht zu. "M-e-d-i-t-a-t-i-o-n?"

 Ich merkte, daß dieses Wort irgendetwas Unerwartetes in ihm auslöste. Hinter seiner Stirn schienen außergewöhnlich heftige Denkvorgänge einzusetzen. Nach einem längeren Schweigen schüttelte er den Kopf. "Zwecklos", sagte er. "Ich bin zu fett für den Lotussitz."

 Verdammt. Auf diesen Einwand war ich nicht vorbereitet gewesen. Eine Weile grübelte ich herum, während Bodo sich wieder, Chips mampfend, der Seifenoper widmete. Dann wurde mir klar: Es kam nicht auf das äußere Brimborium an, sondern auf die Essenz. Die Essenz der Meditation bestand darin, sich ruhig hinzusetzen, die Augen zuzumachen, auf den eigenen Atem zu lauschen und Nichts zu tun. Der Lotussitz war überflüssiges äußeres Brimborium. Und für alles andere brachte Bodo geradezu ideale Voraussetzungen mit. Besonders wichtig war: Während er meditierte, würde er nicht essen. Ich erklärte es ihm. Wieder arbeitete es hinter seiner Stirn längere Zeit, dann sagte er: "Na gut. Ich probier's."

Zunächst geschah nichts Spektakuläres. Bodo berichtete, daß er, bevor er den Fernseher einschaltete, täglich eine halbe Stunde meditierte. Er sagte, es mache ihm Spaß. Es sei sehr angenehm, die Augen zuzumachen, einfach auf den Atem zu lauschen und nichts zu tun.

Nach einer Weile, es mögen vier oder fünf Wochen gewesen sein, begann er, die Meditationszeiten auszudehnen. Er sagte, Fernsehen sei ja gar nicht schlecht, aber dieses innere Fernsehen beim Meditieren mache eigentlich mehr Spaß, zumal es nicht durch dämliche Werbespots unterbrochen werde. Außerdem müsse er beim Meditieren nicht ständig essen und spare dadurch beim Einkaufen Geld.

Irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem Bodo mehr Zeit meditierend als fernsehend verbrachte. Und er nahm ab. Nicht, daß er schlank geworden wäre, aber man konnte ihn, statt beängstigend unförmig, wieder gemütlich dick nennen.

Eines Tages stand er aus dem Sessel auf und sagte zu mir: "Ich glaube, es ist Zeit, etwas Bewegung in die Sache zu bringen."

Ich blickte ihn erstaunt an. Es war sehr ungewöhnlich, daß Bodo das Wort "Bewegung" benutzte. Und es kam noch toller: Bodo sagte nämlich: "Wir gehen in den Park."

Seit seiner Entlassung vor fast zwei Jahren hatte Bodos einziger Weg von der Wohnung zum Supermarkt und zurück geführt. Daß er jetzt die Absicht bekundete, in den Park zu gehen, war geradezu revolutionär.

Bodo hatte sich im Supermarkt einen großen, stabilen Klappstuhl gekauft. Den nahm er mit, und eine Literflasche Limonade. Ich erinnere mich noch genau: Es war ein milder Spätnachmittag im Frühsommer. In gemächlichem Trott, der einzigen Bodo angemessenen Bewegungsart, strebten wir dem Park zu. Gespannt wartete ich ab, was weiter geschehen würde.

Im Park suchte Bodo gezielt jene Stelle auf, an der sich die meisten Menschen tummelten. Hier, beim schönsten Springbrunnen, klappte Bodo seinen Stuhl auf, stellte die Limoflasche daneben und setzte sich bequem hin. Was hat er vor? fragte ich mich. Will er sich statt den Seifenoper-Gestalten das wirkliche Leben anschauen? Oder will er jetzt im Park meditieren?

Doch zu meiner Überraschung begann Bodo zu sprechen - laut und wohltönend. Wie ich schon sagte, hatte er eigentlich immer recht dünn und kläglich geklungen. Jedenfalls war ich daran gewöhnt, Bodos Stimme als dünn und kläglich wahrzunehmen. Ich weiß nicht, ob sie sich durch das viele Meditieren verändert hatte, aber an diesem Spätnachmittag im Park hörte ich sie zum erstenmal als melodiöse Singsang-Stimme. Diese Singsang-Stimme bewirkte, daß die Leute stehenblieben und Bodo zuhörten.

Manchmal denke ich, es war vor allem seine durchs Meditieren melodiös gewordene Stimme, die den großen Umschwung brachte - obwohl es gewiß auch an dem lag, was er sagte. Er empfahl den Leuten, täglich, statt fernzusehen, eine halbe Stunde zu meditieren. Und er sprach von der Zeit. Von der Zeit, die nötig sei, allen Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Und wenn man seine tägliche halbe Stunde meditiert habe, könne man ja nachher den Fernseher überhaupt ganz ausgeschaltet lassen, sich stattdessen nach draußen zu den Blumen und Vögeln in die Sonne setzen und das Leben an sich genießen. Überhaupt sei es gar nicht nötig, so viel zu tun. Das verursache im allgemeinen nur ein schreckliches Durcheinander, womit letzlich niemandem geholfen sei.

Das war Bodos Rede, und, wie gesagt, die Leute blieben stehen und hörten zu. Nachdem er auf diese Weise zwei Stunden gesprochen und zwischendurch mit kräftigen Schlucken aus der Limoflasche seine Kehle angefeuchtet hatte, stand er auf, klappte seinen Stuhl zusammen und trottete zurück zu seiner Wohnung. Dort nahm er in aller Ruhe ein ausführliches Abendessen ein und zog sich dann zum Meditieren in seinen Sessel zurück.

Von nun an ging Bodo täglich spätnachmittags für zwei Stunden in den Park, immer an dieselbe Stelle beim Springbrunnen, klappte seinen Stuhl auf, stellte die Limoflasche daneben, setzte sich gemütlich hin und redete. Anfangs hörten nur die Leute zu, die sowieso gerade vorbeikamen, doch rasch sprach sich herum, daß dort einer philosophierte, der ganz offensichtlich durch Nichtstun zu Verstand gekommen war. Und bald wartete jedesmal, wenn Bodo um halb fünf seinen Klappstuhl aufstellte, eine Menschenmenge darauf, seiner melodiösen Singsang-Stimme zu lauschen.

Zeitungen und Fernsehen berichteten über den "Weisen mit dem Klappstuhl". Immer mehr Leute befolgten seinen Rat: Täglich eine halbe Stunde meditieren, also bequem hinsetzen, Augen zumachen, auf den Atem lauschen und Nichts tun. Und in der übrigen Zeit des Tages das Leben ruhig angehen, sich an den kleinen Dingen freuen, öfter mal den Vögeln und dem Wind zuhören und dran denken, daß die Welt sich auch weiterdreht, wenn man selber ruhig sitzenbleibt.

Die Menschen schienen geradezu nach Bodos Botschaft zu hungern. Sie reisten von überallher an, um ihn sprechen zu hören. Gelehrte aus allen Erdteilen diskutierten mit ihm. Abschriften seiner Reden fanden weltweite Verbreitung. Und das alles bewirkte er nur durch seinen täglichen zweistündigen Klappstuhlvortrag im Park. Er tingelte nicht durch Talkshows, ging nicht auf große Welttournee, scheffelte keine Millionen. Als der Herbst kam, und die Nachmittage kühl wurden, baute man ihm neben dem Springbrunnen einen kleinen Holzverschlag mit Propanheizung, in dem er seinen Klappstuhl aufstellen konnte. Und immer noch strömten die Leute herbei. Als er damals, in seiner Wohnung, zum erstenmal das Wort "Bewegung" in den Mund nahm, hatte ich geahnt, daß sich etwas Revolutionäres ereignen würde. Und ich behielt recht.

Jetzt, in der Rückschau, kann man zweifellos sagen, daß Bodo für die Gegenwart das ist, was Buddha und Jesus Christus für das Altertum waren. Die Menschheit stand am Abgrund, und Bodo zeigte ihr, daß sich dieses Problem am besten lösen läßt, indem man nicht weitergeht, sondern sich hinsetzt und das genießt, was sich vor dem Abgrund befindet. Mit anderen Worten: Dank Bodo ist die Welt gemütlich geworden. Die Leute nehmen sich Zeit.

Das ist doch allerhand, oder nicht? Und mit einem gewissen Stolz, wenn auch in aller Bescheidenheit, kann ich anmerken, daß ich meinen Teil zu dieser glücklichen Entwicklung beitrug. Hätte ich seinerzeit nicht meinem Freund Bodo den Rat gegeben, sich der Meditation zu widmen, wer weiß, was dann aus der Menschheit geworden wäre?

 

Copyright  © 2002 by Thomas Görden, Linz am Rhein. Alle Rechte vorbehalten.